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Dr. Annette Mund, Vorsitzende des knwKinderrechte in Medizin und Therapie

Versorgungslücke wird größer

06.11.2020:

Kinder, Rechte, Medizin, Therapie - alles Begriffe, die bekannt sind und für sich genommen jeweils eine Welt voller Bedeutungen und Inhalten repräsentieren. Die Kombination der Begriffe Kinder und Rechte ist noch relativ ungewöhnlich. Die Bedeutung dahinter ist nicht klar oder einfach zu fassen. Betrachtet man dann noch die Verschmelzung der Inhalte beider Begriffe vor dem Hintergrund von Medizin und Therapie, wird alles noch etwas unübersichtlicher.

Kinder sind Menschen, wenn auch kleine. Menschen besitzen in Deutschland und anderen europäischen Staaten, Rechte. Diese gelten als unveräußerlich, was bedeutet, dass niemand, auch nicht der Staat, sie den Menschen nehmen oder in Abrede stellen kann. Neben diesen Menschenrechten besitzen Kinder Entscheidungsrechte. Diese sind nicht im Grundgesetz oder in anderen Verfassungen abgebildet; dennoch haben sie Gewicht und sind abhängig vom jeweiligen Alter oder Entwicklungsstand der Betroffenen. Und genau hier ergeben sich Probleme. Kinder bilden eine eigene Gruppe innerhalb der Gesellschaft, sind aber gleichzeitig von Erwachsenen, bzw. den Eltern abhängig und sind auf deren Schutz, Anleitung und Fürsorge angewiesen. Kinderrechte tangieren somit immer auch Elternrechte, sind aber nicht deckungsgleich. Elternrechte betreffen in ihren Auswirkungen die Kinder, Kinderrechte gelten nur für die Kinder, müssen jedoch meist von den Eltern wahrgenommen und verteidigt werden. Dennoch gilt, dass das Kind ein eigener Rechtsträger ist und als solcher unter niemandes Verfügungsgewalt steht.

Rechtegrundlage

Rechte sind abhängig von der jeweiligen Staatsform, Kultur und Tradition. Am 20. November 1989 wurde die UN-Kinderrechtskonvention (Übereinkommen über die Rechte des Kindes) von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) unterzeichnet. Alle Mitgliedstaaten unterzeichneten die Konvention, außer den USA. Seit diesem Datum gelten die Rechte der Kinder als festgeschrieben und staatlich gewollt, gesetzt. Dennoch werden sie vielfach missachtet, so ausgedeutet, dass „es passt" oder einfach übersehen.

Artikel 23, 1 der Kinderrechtskonvention (KRK) besagt, „dass ein geistig oder körperlich behindertes Kind ein erfülltes und menschenwürdiges Leben unter Bedingungen führen soll, welche die Würde des Kindes wahren, seine Selbständigkeit fördern und seine aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft erleichtern". Der folgende Artikel 24, 1 KRK bestätigt dazu „das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit". Hier entsteht das bekannte Dilemma, denn im Sozialgesetzbuch V, das die Belange der gesetzlichen Krankenversicherung regelt, ist in § 12 das Wirtschaftlichkeitsgebot festgeschrieben „(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen." Worauf kann ein Kind also nun vertrauen – auf das „Höchstmaß an Gesundheit", wie es die UN-KRK beschreibt, oder nur auf eine „ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche" Behandlungsleistung?

Immanuel Kant sagte einmal, dass das Recht nie an die Politik, die Politik aber jederzeit an das Recht angepasst werden müsse. Im heutigen Europa und im Hinblick auf Medizin und Therapie muss der Satz umformuliert werden: das Recht soll nie an die Wirtschaftlichkeit, sondern die Wirtschaftlichkeit an das Recht angepasst werden. Denn aus wirtschaftlichen Überlegungen, Ressourcenengpässen materieller und personeller Art und aus falsch gesetzten Effizienzüberlegungen entstehen die meisten Kinderrechtsverletzungen in Medizin und Therapie. Sie entstehen immer dann, wenn in Situationen, in denen das Kind mit betroffen ist, nicht vom Kind aus gedacht wird. Die folgenden Beispiele zeigen splitterhaft, wo Kinderrechte in Medizin und Therapie missachtet werden. Es gäbe noch viel mehr aufzuzeigen, aber ...


Schon während der Geburt eines Kindes kann es zu Rechteverletzungen kommen.

Häufig steht zu wenig Personal zur Verfügung, Hebammen müssen sich um mehrere Gebärende gleichzeitig kümmern oder Mütter, die in den Wehen liegen, werden von Kliniken gar wegen Überfüllung abgewiesen. Eine umfassende Betreuung und die Sicherstellung von Ruhe und einer geburtsfördernden Atmosphäre sind dann nicht gegeben. Mütter und Kinder werden Teil einer von wirtschaftlichen Überlegungen geprägte Geburtsmaschinerie. Laut Iris Eichholz ("Direkte Interventionen am Kind / Moor-Verlag 2019) werden Amniotomie, Zangen- und Saugglockenentbindungen oder auch Kaiserschnitte häufig aus wirtschaftlichen Überlegungen durchgeführt, um damit den Geburtsablauf zu beschleunigen. Invasive Maßnahmen, wie das Anbringen einer Kopfschwartenelektrode (KSE) am Kopf des noch ungeborenen Kindes zur Überwachung der Herztöne, kann nach Meinung der genannten Autorin unter Umständen eine Körperverletzung nach § 223 StGB darstellen. Das Kind wird - natürlich ungefragt, aber häufig wird auch die Mutter nicht um Zustimmung gebeten - an der Kopfhaut verletzt, um die Herztöne besser hörbar zu machen. Oft wird die Maßnahme „der Einfachheit halber" und nicht aus medizinisch notwendigen Gründen durchgeführt. Laut Iris Eichholz könnte die Anzahl der Maßnahmen im Rahmen einer Geburt deutlich gesenkt werden, wenn mehr Personal zur Verfügung stünde und den Müttern mehr Zeit für eine individuell verlaufende Geburt gegeben werden könnte. Die Rechte des Kindes auf eine natürliche Geburt könnten so eher gewahrt werden.

Müssen Kinder im Krankenhaus bleiben, sei es aus Gründen der Frühgeburtlichkeit oder aufgrund von Geburtskomplikationen, steht das Recht des Kindes auf Anwesenheit der Eltern zur Diskussion. In vielen Kinderkliniken ist es sehr schwer, dieses Recht durchzusetzen. Bauliche, räumliche und teilweise auch gedankliche Barrikaden erschweren die Elternbegleitung. Das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit kann ein Kind nicht erreichen, wenn die Eltern nicht anwesend, schlecht untergebracht oder pendelnd zwischen Kinderklinik und eigenem Heim leben müssen. Studien zeigen, dass Kinder, deren Eltern während des gesamten Klinikaufenthaltes bei ihnen sind, deutlich bessere Fortschritte in Genesung und Wohlbefinden zeigen, als allein liegende Kinder. Besonders wichtig ist dies in Frühgeburtssituationen. Viele Perinatalzentren bemühen sich, Räume herzurichten oder neu zu bauen, um die gewünschte und notwendige Familienorientierung möglich zu machen. Der Bundesverband „Das frühgeborene Kind" zeigt auf der Internetseite https://www.neotraeume.de/ auf, wie eine Neugestaltung im Sinne einer Familienorientierung möglich sein könnte.

Rechte von Kindern mit Behinderungen

Ist ein Kind schwer körperlich oder geistig behindert und muss medizinisch behandelt werden, so bleiben selbst elementare Rechte des Kindes häufig unbeachtet. Gerade wenn eine geistige Behinderung vorliegt, werden die Kinder oder Jugendlichen oft in der Kommunikation übergangen. Die eigenständige Persönlichkeit des Kindes wird nicht wahrgenommen. Praxispersonal, Schwestern, Pfleger und auch Ärzte sprechen mit der anwesenden Mutter über das Kind, den Jugendlichen, aber nicht mit ihm. Dabei geschieht diese Nichtwahrnehmung meist nicht aus bösem Willen oder aus bewusst gesetzter Ignoranz, sondern aus einer Unbehaglichkeit gegenüber (geistiger) Behinderung und Zeitmangel heraus. Das Kind wird nicht angesprochen, da man nicht weiß, ob es versteht und wenn ja, was und wie viel. Es würde Zeit kosten herauszufinden, wie die Kommunikation gelingen kann. Da aber die sprechende Medizin mit all ihren Möglichkeiten teuer ist, wendet man sich sofort an die Mutter. Alle Kinder aber brauchen und haben ein Recht auf Ansprache, Respekt, Freundlichkeit und das Gefühl, gewollt zu sein, gesehen zu werden und teilhaben zu können.


Kinderrecht auf Freizeit

Ebenso haben alle Kinder ein Recht auf Freundschaft, Freizeit und Erholung. Sind Kinder schwer behindert, wird ihnen dieses Recht oft vorenthalten. Häufig sind die Schulen der Kinder weit entfernt. Ist ein Kind schwer betroffen, kann es seine Freunde und Peers meist nur in der Schulzeit sehen. Sind Ferienzeiten, ist dies nicht möglich, weil der Fahrdienst entfällt. Die Kinder bleiben zuhause und müssen oft sechs lange Wochen mit der Familie verbringen, weil auch Ferienangebote für (schwer) behinderte Kinder rar und wenn vorhanden, dann oft zu teuer sind. Die Familie selbst ist häufig mit der Situation überlastet, weil sie nun ununterbrochene Aufsicht und Pflegesituation zu leisten hat. Diese Überforderung wirkt sich negativ aus, auf die versorgenden Eltern, die sehr gefordert sind und auf das betroffene Kind, das gegebenenfalls die Überlastung der Eltern sieht, nicht ändern kann und das daraufhin selber gestresst reagiert. Eine Verbesserung im Sinne eines deutschlandweiten Ausbaus von Ferien- und Kurzeitpflegplätzen für betroffene Kinder würde den Kindern ihr Recht auf Freunschaft und Erholung ermöglichen. Wieder stehen finanzielle Einsprüche dagegen.

Kinder in klinischen Studien
Eine Situation der Kinderrechtsverletzung, die nicht mit wirtschaftlichen Gründen in Zusammenhang steht, ist die Frage einer möglichen Teilnahme des Kindes an einer klinischen Studie. Ist die medizinische Situation schwierig, sind die Behandlungsalternativen für das Kind überschaubar und die bisherigen Therapieerfolge schwach bis nicht existent, so tun sich Eltern eher leicht, ein Kind in eine passende klinische Studie zu geben. Meist werden die Kinder dazu von Elternseite nicht einmal befragt. Kinder haben aber das Recht, ab dem Alter, in dem sie verstehen können was mit ihnen geschieht zu entscheiden, ob sie eine solche Behandlung wollen, oder nicht. Ist die Studienteilnahme eine Möglichkeit, ein an sich gut eingestelltes Leiden eventuell zu verbessern, d. h. ist der Leidensdruck nicht so hoch, so können die Diskussionen in den Familien groß sein. Eltern möchten eine Studienteilnahme des Kindes, das Kind aber nicht. Oder umgekehrt. Es ist wichtig, auf das Urteil des Kindes zu hören, denn alle Aspekte, die das Kind betreffen, sollen vom Kind aus betrachtet und gedacht werden. Das kann zu ethisch höchst brisanten Fragen führen, wie die des Umgangs mit dem freiwilligen Tod von Kindern in Belgien und Großbritannien zeigt.

Das Thema der Kinderrechte in Medizin und Therapie sollte von allen Beteiligten erkannt, gut durchdacht und diskutiert werden. Es ist wichtig zu verstehen, wie die Würde des Kindes und das Höchstmaß seiner Gesundheit erhalten und in die Realität übertragen werden kann. Es darf nicht sein, dass finanzielle und damit einhergehend personelle Ressourcen, den Rechten des Kindes entgegen stehen. Die Umsetzung der Vorgaben der UN-KRK muss ein gesamtgesellschaftliches Anliegen werden, bzw. sein.

Dr. Annette Mund, Vorsitzende knw