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Personalisierte Medizin ist ohne „personalisierte“ Pädiater nicht möglichFestvortrag im Rahmen des 10. Fürstenrieder Symposiums

knw kindernetzwerk symposium

05.05.2020:

Im Gegensatz zur Präzisionsmedizin, bei der jeder bösartige Tumor aber auch jede der etwa 8.000 seltenen genetischen Erkrankungen einen spezifischen molekularen Therapieansatz erfährt, soll bei der personalisierten Medizin jedem Patienten eine individuell angepasste Therapie zugutekommen. Doch werden die Medizin und damit auch die Pädiatrie heute nicht zunehmend entpersonalisiert?

Beitrag von Klaus Peter Zimmer

Ziel des Fürstenrieder Festvortrages war die Antwort auf die Frage, ob und wie personalisierte Medizin in einer zunehmend kommerzialisierten und entpersonalisierten Medizin umgesetzt werden kann. Grundlage der personalisierten Medizin ist eine proaktive Patient-Arzt-Beziehung, die sich bei klinischer Tätigkeit im wissenschaftlichen (universitären) Umfeld als besonders innovativ erweist. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Entdeckung der Diät für die Phenylketonurie (PKU) durch Prof. Horst Bickel 1953, bei der die Mutter von Sheila jeden Morgen an der Tür von Prof. Bickels Labor stand und ihn aufforderte, eine Therapie für ihre Tochter zu entwickeln. Während früher die praktische Umsetzung solcher Entdeckungen im klinischen Alltag zum Wohle des Patienten viele Jahre dauerte (bei der PKU-Diät etwa 13 Jahre), gelingt es mit den biotechnologischen Fortschritten kosteneffektiv und schnell, eine heterogene Symptomatik molekular zuzuordnen, um damit eine kausale am Gendefekt ansetzende Therapie anwenden zu können. Allerdings resultieren daraus auch sehr teure Therapien. So verlangt die Pharmaindustrie z.B. für die Behandlung der Spinalen Muskel Atrophie (SMA) für ihre Präparate pro Patient etwa 2 Millionen Euro.

Ist die personalisierte Medizin finanzierbar?

Diese teuren Präparate befeuern die laufende Diskussion der Finanzierbarkeit der Gesundheitssysteme, in der die deutschen Gesundheitspolitiker und -ökonomen auf eine Begrenzung der Ausgaben auf etwa 11% unseres Bruttoinlandproduktes drängen. Diese haben jedoch in Deutschland in den letzten 16 Jahren trotz eines erheblichen Fortschritts in der Medizin lediglichum 13% zugenommen hat (Zuwachsrate Niederlande +52%, Schweden +49%, Finnland +38%, Norwegen und Schweiz +29%). Die Finanzierung dieser teuren Medikamente durch die gesetzlichen Krankenkassen wird durch den so genannten „Nikolausbeschluss" des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.05 bestärkt. Dieser besagt, dass bei Erkrankungen mit hinreichendem Schweregrad wie der SMA, dem Fehlen zumutbarer Alternativen im GKV-Leistungskatalog und dem Bestehen einer hinreichenden Heilungschance auch extrem teure Leistungen finanziert werden müssen. Dem steht das deutsche Sozialgesetzbuch entgegen, in dem lediglich eine „ausreichende Gesundheitsversorgung" festgelegt ist, die wiederum im Gegensatz zur Forderung nach einem „Höchstmaß an Gesundheit für Kinder" der Kinderechtskonvention steht. Solche teuren Medikamente – wie bereits geschehen - z.B. per Losverfahren der herstellenden Firma zu vergeben stellt für den Deutschen Ethikrat ein ethisches No-Go dar.

In diesem Kontext und vor dem Hintergrund der Personal- und Zeitintensität besteht gerade in der Pädiatrie eine vorrangige Herausforderung für Politik, Krankenkassen, medizinische Selbstverwaltung, Klinikträger und Zivilgesellschaft (incl. Selbsthilfegruppen). Denn bezogen auf den Reichtum unseres Landes weist die Kinder- und Jugendmedizin relativ schlechte Qualitätsdaten im internationalen Bereich (u.a. Platz 14 im Child Flourishing Index, Lancet 2020) auf, was auch im Mangel an leistungsfähigen multiprofessionellen Behandlungszentren für chronisch kranke Kinder deutlich wird.

Unsere Kliniken sollten nach Vorgabe der Politik und einer neoliberalen Ausrichtung unserer Gesellschaft profitabel bzw. nach Marktgesetzen organisiert werden. Die Behandlungen werden auf Refinanzierbarkeit (nicht auf Bedarf) geprüft. Ärzte müssen in einem System der organisierten Unverantwortlichkeit primär als „Verantwortungsträger" fungieren.

„Entpersonalisierung" in der Medizin

Unter diesen Voraussetzungen ist es zu einer Entpersonalisierung der Medizin gekommen: und zwar durch kürzere Behandlungszeit pro Fall im europäischen Vergleich, durch Pflegeroboter oder auch vermehrte „digitale Arztbesuche." Dabei verliert auch das medizinische Personal zunehmend sein ursprüngliches Gefühl für die eigene Persönlichkeit. In der Folge entwickeln sich „Burn-out"-Erkrankungen, die erheblich zur Schwächung leistungsfähiger Teams beitragen. In Anbetracht der Tendenz, nicht primär den Patienten, sondern seine Krankheit, einen Laborwert, ein Röntgenbild oder eine Mutation oder sogar das Budget der Geschäftsführung oder eigene Interessenkonflikte (überhebliches oder gekränktes Ego) zu behandeln, wird das Bedürfnis und die Teilnahme des Patienten im Versorgunggeschehen oft weder als erwünscht noch als notwendig erachtet.

Um eine personalisierte Medizin zu praktizieren, müssten Ärzte nicht nur Empathien, sondern auch kreative Beziehungen zu ihren Patienten entwickeln, um therapeutische Erfolge zu erzielen. Die „hilflosen Helfer" müssen ihre Passivität, Ohnmacht und Angst vor Repressalien überwinden, um ihre Solidarität, Unabhängigkeit und Persönlichkeit zu reanimieren. Denn personalisierte Medizin ist ohne „personalisierte" Ärzte, die gegen eine Infiltration pekuniärer Interessen innerhalb der medizinischen Versorgung immunisiert sind, nicht möglich. Ärzte können nicht erwarten, dass Ihnen ihre Patienten - im Falle der Pädiatrie Kinder und Eltern - folgen, wenn sie nicht vorausgehen!

 

Zum Autor:

Prof. Dr. K.-P. Zimmer, Abt. Allgemeine Pädiatrie & Neonatologie Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Justus-Liebig-Universität Gießen, E-Mail: klaus-peter.zimmer@paediat.med.uni-giessen.de