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Beatrice, das Einhorn-MädchenEine Geschichte für die Kleinen des knw

2 gezeichnete Einhörner

Eine Geschichte nur für Euch

Geschichte und Bilder von der Kindernetzwerk-Vorsitzenden Dr. Annette Mund

Opa schlief auf seiner Lieblingsdecke, als Beatrice in sein Zimmer kam. Sie war sehr aufgeregt und wollte Opa sofort von ihrem ersten Schultag erzählen. Sie liebte Opa sehr; er war schon alt. Seine dichte Mähne war nicht mehr so schön wie früher. Er hatte nur noch wenige Haare, dafür wuchsen sie an allen möglichen Stellen an seinem Körper; selbst aus der Nase wuchsen sie. Er war alt und oft müde, aber Beatrice kannte niemand anderen, der auf alle ihre Fragen immer eine gute Antwort parat hatte. Und heute hatte sie so viele Fragen. Sie musste unbedingt mit ihm sprechen und, obwohl er so süß schlief, die Brille vor den Augen, musste sie ihn sofort wecken.

„Opa, wach auf, wach auf. Ich muss Dir erzählen, was heute alles in der Schule war!“

„Hmbrmh“ Opa brummelte vor sich hin, öffnete aber die Augen und sah Beatrice lächelnd an. „Was ist denn so Aufregendes geschehen? Natürlich, ja, es war ja Dein erster Schultag. Dann erzähle mal.“ Aufmunternd sah er seine kleine Enkelin an.

„Weißt Du Opa, ich habe heute ganz viele andere Einhorn-Mädchen kennen gelernt. Viele, viele, aber stell Dir vor – da waren Mädchen, die ganz anders als ich sind!“ Sie schaute Opa mit großen Augen aufgeregt an.

„So, wieso sind sie denn anders als Du?“

„Da ist ein Mädchen, Barbara heißt sie. Die hat nur ein Auge und ein Ohr!“

„Oh!“

„Ja, und ein Mädchen, Selma, kann nicht laufen und sitzt auf einem Wagen, der gezogen werden muss. Und ein anderes Mädchen hat nur ein ganz kleines Horn im Gesicht, fast winzig. Und ihr Schwanz ist irgendwie ganz buschig. Ganz anders, als bei mir.“

„Aha, nun ja“ brummelte Opa, aber Beatrice ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. „Und da ist auch noch eine andere, die ist so schön. Sie ist groß und hat schwarz-weiße Haare. Sie ist ganz stark und sie hat gesagt, dass die anderen Mädchen doof sind, weil sie irgendwie behindert sind.“

„Oh“, meinte Opa und seine Augen zogen sich eng zusammen. „Das scheint aber ein dummes Mädchen zu sein.

„Wieso?“, fragte Beatrice. “Sie ist schön und bestimmt ist sie auch klug. Und die anderen Mädchen sind ja auch irgendwie …“

„Was sind sie irgendwie?“ fragte Opa streng. Beatrice runzelte die Stirn. Wenn Opa so streng war, bedeutete das, dass sie dummes Zeug geredet hatte. Nur wusste sie nicht genau, was sie Falsches gesagt hatte.

„Nun ja“, stammelte sie, „die Mädchen sind doch wirklich behindert, stimmt doch?“ Unsicher schaute sie Opa an.

„Ja“, sagte Opa „anscheinend sind sie das. Aber was bedeutet das?“

„Naja“, sagte Beatrice. “Eigentlich haben Einhörner immer zwei Augen und zwei Ohren und sie können laufen. Und das Horn ist ein Zeichen, dass wir starke Wesen sind. Ist es so winzig wie bei diesem anderen Mädchen, bedeutet das, dass sie nicht stark ist.“

„Ja, bedeutet das das wirklich? Konntest Du merken, dass sie schwach war? Oder meinst Du das nur, weil man solches Zeug erzählt? Und war das Mädchen, das nur ein Ohr und ein Auge hat, kein Einhorn-Mädchen?“

„Doch, natürlich, nur …“ Sie überlegte. Natürlich war Barbara ein Einhorn-Mädchen, keine Frage, nur …

„Und das Mädchen, wie hieß es nochmal, das nicht stehen kann. Ist es auch kein Einhorn-Mädchen, nur weil es liegen muss? Beatrice, denkst Du das wirklich?“

„Ach Opa, das ist alles so kompliziert. Du kannst doch immer alles erklären, aber jetzt bist Du böse auf mich und das will ich nicht.“ Beatrice standen die Tränen in den Augen. Sie wollte doch nur von den aufregenden Neuigkeiten berichten und von dem schönen anderen Einhorn-Mädchen und jetzt sagte Opa, dass dieses dumm sei, und stellte alles so dar, als sei sie selbst auch eine Dumme.

„Süße, pass mal auf und hör gut zu, was ich Dir jetzt sage.“

Schmollend nickte Beatrice.

„Der Körper ist der Körper. Du hast einen und Mama sagt manchmal, dass Du ein Pummelchen bist, aber ein schönes. Ich habe einen alten Körper, der Haare verliert und Haare an anderen Stellen wachsen lässt. Wir beide können an diesen Dingen nichts tun, denn der Körper ist, wie der Körper ist. Und jetzt hast Du Mädchen in Deiner Klasse, bei denen der Körper wieder ganz anders ist. Aber, und das ist das Wichtige, der Körper ist nur das Gerüst, das uns durch das Leben trägt. In ihm lebt ein Geist, eine Intelligenz, eine Seele. Du hast nur die Körper der Mädchen beschrieben – nur ein Auge und ein Ohr, kann nicht laufen, winziges Horn und buschiger Schwanz. Nur bei der Schönen hast Du etwas von ihrer Seele beschrieben – sie sagt, die anderen sind doof. Also scheint diese Seele wohl selbst etwas doof zu sein. Ich möchte, dass Du morgen und in den nächsten Tagen versuchst, etwas über die Seelen, den Geist und die Intelligenz der anderen Mädchen herauszufinden, und dann erzählst Du mir davon. Dann werden wir weitersehen. In Ordnung?“

„Ja“ sagte Beatrice. Sie wusste zwar nicht ganz genau, was Opa eigentlich von ihr wollte, aber sie wollte versuchen, mehr über die Mädchen zu erfahren.

„Na also, und jetzt lass mich weiterschlafen!“

In den nächsten Wochen redete Beatrice sehr viel mit allen Mädchen und sie fand heraus, dass Barbara, obwohl mit nur einem Auge und einem Ohr beschenkt, ganz wunderbar lachen konnte und ein gutes Gespür für ein schönes Aussehen hatte. Sie ließ ihr Haar wachsen und es über die augenlose Seite fallen, so dass man eigentlich kaum noch sehen konnte, dass sie nur ein Auge hatte. Und sie setzte schönen Schmuck auf ihre Haare, so dass das fehlende Ohr gar nicht mehr auffiel.

Selma fand, dass ihr Wagen ihr viele Vorteile bescherte; sie konnte sich ziehen lassen, bergrunter schneller als alle anderen runtersausen und manchmal die eine oder andere mitfahren lassen. Zudem schloss sie Freundschaft mit Samira, dem Mädchen mit dem winzigen Horn im Gesicht und dem buschigen Schwanz. Ihre Haare waren so, wie es im Süden der Erde üblich war, denn Samiras Eltern kamen aus einem ganz entfernten Land. Und obwohl sie nur so ein kleines Horn im Gesicht hatte, war sie doch ganz besonders stark und zog Selma überall hin, wohin diese wollte.

Beatrice war sehr gerne mit allen zusammen; sie alle hatten viel Spaß und langsam vergaß sie, dass Barbara nur ein Auge und ein Ohr hatte, dass Selma nicht laufen konnte und dass das Horn in Samiras Gesicht so klein war. Sie sah das alles nicht mehr, sie sah nur noch ihre Freundinnen. Nur zu Auguste, der Schönen, hatte sie immer weniger Kontakt, denn Auguste zeigte immer und überall, wie schön und groß sie war.

Einmal hatte Beatrice versucht, Auguste das zu erklären, was ihr der Opa gesagt hatte, denn mittlerweile hatte sie verstanden, was er versucht hatte, ihr zu sagen. Sie hatte versucht, Auguste klarzumachen, dass sie auch nur einen Körper hatte, wie alle anderen auch. Nur eben einen, an dem man erst einmal nichts aussetzen konnte. Dass aber auch in ihrem Körper eine Seele und ein Geist säßen, die schön sein sollten. Und dass sie so redete, dass Beatrice nicht glauben konnte, dass ihre Seele schön sei. Aber Auguste hatte nicht hören wollen. Sie bildete sich weiterhin viel auf ihre Stärke und Schönheit ein. Das ging so lange, bis sich alle anderen Mädchen von ihr abgewandt hatten und nicht mehr mit ihr spielen und reden wollten. Da wurde sie traurig und sank in sich zusammen und tatsächlich hatte Beatrice das Gefühl, dass sie kleiner geworden war. Sie selbst aber war glücklich, mit Barbara, Selma und Samira lachen und sich gut fühlen zu können.