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Pflegebedürftigkeit ist kein exklusiver Zustand des AltersJunge Pflege – ein vergessener Bereich in der Gesundheitsversor- gung?

junge pflege kindernetzwerk

21.01.2021: Julian lebt seit etwa einem Jahr auf der Station für junge Pflege in der Einrichtung, die ihn aufgenommen hat. Es ist nicht einfach, einen guten Platz zu finden, wenn man körperlich und /oder geistig beeinträchtigt ist. Wenn man Pech hat, landet man als noch junger Mensch in einem Altenheim und ist umgeben von Gewohnheiten, Abläufen, Angeboten und Strukturen, die eben für betagte Menschen gedacht und angebracht sind; aber eben nicht für junge Leute. Und wer möchte als Junger nur von Alten umgeben sein?

Julian weiß, dass er Glück hatte, sprichwörtlich Glück im Unglück. Bis vor einem Jahr war noch alles in Ordnung. Er hatte eine Freundin, mit der er ein gemeinsames Leben plante. Er hatte endlich einen Betrieb gefunden, in dem er gut klarkam. Dachdecker und überhaupt die Menschen auf dem Bau sind in der Regel eher hart. Der Umgangston ist rau, Regeln sind nicht immer zu verstehen aber rigoros zu befolgen und zu viele Fragen sollten nicht gestellt werden. Das war Julian immer klar gewesen, aber er war eben ein nachdenklicher Typ. Einer, der zwar wenig redete, aber viel erfragen wollte. Der wissen wollte, um dann über das Gesagte nachdenken zu können. Das hatte ihm seine Ausbildungs- und bisherige Arbeitszeit nicht immer leicht gemacht, doch endlich hatte er einen Betrieb gefunden, in dem er gelassen wurde, wie er war. Man akzeptierte ihn und das machte ihn glücklich. Und das hatte er doch nur feiern wollen, nur ein paar Bier, nur ein paar Joints. Ein bisschen jubeln, dass alles nun so gut lief. Dann war er aus dem Fenster gefallen, aus dem zweiten Stock, auf den Bürgersteig vor dem Haus. Krankenhaus, langes Koma, diverse Operationen und dann der Rollstuhl. Ab irgendwann dann lebte er hier, in der jungen Pflege dieser Einrichtung.1 Nicht immer ist die Pflege zu Hause möglich In Deutschland lebten Ende 2014 rund 59 Millionen Menschen unter 60 Jahren1, von denen mehr als 300.000 zwischen 16 und 60 Jahren alt und pflegebedürftig waren. „Knapp 90 Prozent der 15- bis 60-jährigen Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt. Die Eltern oder der Partner kümmert sich, manchmal unterstützen ambulante Pflegedienste. Doch nicht immer ist die Pflege zu Hause möglich, beispielsweise bei Alleinstehenden oder Pflegebedürftigen, deren Angehörige zu alt für die Pflege sind."

Für Julian hatte die Wahl zwischen Pflege zuhause und der in einer Einrichtung nicht wirklich bestanden. Seine Freundin, seine Beinahe-Ehefrau, hatte sich sehr schnell zurückgezogen. Sie hatte ihm nicht verzeihen können, dass er alles zerstört hatte, und zwar weil er, wie immer mit allem, habe übertreiben müssen, mit Saufen, Kiffen und seinen Spinnereien. „Wahrscheinlich dachtest Du, dass Du fliegen kannst. Verschwinde einfach und lass mich in Ruhe!" Zu seinen Eltern hatte er auch nicht zurück gehen wollen. Auch sie waren völlig verstört, gaben ihm die Schuld an seiner jetzigen Situation, konnten nicht verstehen, wie er sein Leben „so wegwerfen" konnte. Was sollte er dazu sagen? Sich entschuldigen? Wofür? Dafür, dass er selbst es war, dem er am meisten geschadet hatte? Dafür, dass er jeden Tag seines jetzigen Lebens versuchen musste, nicht zu verzweifeln? Dafür, dass er versuchte, mit den neuen Gegebenheiten seines Körpers klarzukommen, ohne sich vom nächsten Bus überfahren zu lassen? Er konnte nicht mehr, nie mehr, laufen und er würde wahrscheinlich immer katheterisiert sein müssen, brauchte Unterstützung beim Toilettengang und bei der Körperpflege. War das nicht genug Strafe, büßte er nicht genug für den einen Moment des Fliegen könnens?

Meist leben In der jungen Pflege die zu Betreuenden in Wohngemeinschaften zusammen. Die Mitglieder dieser Wohngemeinschaften haben sehr unterschiedliche Beeinträchtigungen. Laut des Pflegereports 2017 der BARMER zeigen 35 Prozent der jungen Pflegebedürftigen Lähmungen, bei 32 Prozent zeigen sich Intelligenzminderungen, 24 Prozent von ihnen haben Epilepsie, 22 Prozent leiden unter Entwicklungsstörungen und zehn Prozent haben das Down-Syndrom.

In Julians WG lebt eine Frau mittleren Alters, die ein Down-Syndrom hat. Eine ebenfalls mittelalte Frau ist geistig behindert, kann weder sprechen noch allein gehen und wird immer gewindelt werden müssen. Die anderen in seiner Gruppe sind alle irgendwann aus einem normalen Leben herausgerissen worden. Durch plötzliche Schlaganfälle, durch plötzlich ausbrechende Erkrankungen aufgrund von Genmutationen, durch fehlgeschlagene Operationen, durch Unfälle und durch Drogenabusus. Und alle diese Ereignisse hatten schwerwiegende, einschränkende Folgen. Zum Glück ist es manchmal möglich, sich soweit zu stabilisieren, dass ein eher selbstbestimmtes Leben außerhalb der Einrichtung wieder möglich wird. Und sei es auch „nur" in einer betreuten Lebensund Wohnform, also nicht vollständig selbstständig. Rund 7,6 Prozent der jungen Pflegebedürftigen, die im Jahr 2011 pflegebedürftig geworden waren, schafften es im Verlauf von vier Jahren, ihre Pflegebedürftigkeit zu beenden.

Neue Versorgungsstrukturen dringend notwendig

Auch Julian ist bestrebt, die Einrichtung bald wieder zu verlassen. Denn obwohl die WG und diese Einrichtung ihm sehr geholfen haben und er seine eigenen Kräfte, Ressourcen und Möglichkeiten mit ihrer Hilfe deutlich steigern konnte, so ist es doch eine Zwangs-WG, in der er lebt. Im normalen Leben hätte er nicht mit seltsamen, Tic behafteten, eingeschränkten Menschen in einem Haushalt gelebt. Natürlich nicht, er hatte ja vor dem Unfall noch nicht einmal gewusst, dass es solche Einrichtungen überhaupt gab. Altenheime, klar, die kannte man. Da ging man hin, wenn man allein nicht mehr leben konnte, wenn man die täglichen Aufgaben nicht mehr schaffte. Aber als junger Mensch? Da kann man doch, da braucht man keine Hilfe von anderen. Nur eben, wenn. So wie bei ihm. Es war schon ein Glück, dass man diese Einrichtung für ihn gefunden hatte, denn insgesamt ist die Situation für junge Pflegebedürftige nicht gut. „Durch eine Veränderung in den traditionellen Familienstrukturen sinken die Anzahl der Kinder und die der Angehörigen. Dies hat zur Folge, dass die häusliche Pflege in Zukunft immer weniger umgesetzt werden kann und die Einzüge in Pflegeheime steigen." Doch darauf ist Deutschland (noch) nicht eingerichtet. Schon die Anzahl der Plätze für Senioren ist nicht ausreichend, aber an junge Menschen, die zu pflegen sind, wird zu wenig gedacht.
 

Kindernetzwerk e.V. weist seit Jahren daraufhin, dass bei Pflege nur an alte Menschen und nicht an Kinder und Jugendliche gedacht wird. Doch hier hört der Bedarf nicht auf. In allen Altersgruppen, auch unterhalb des Rentenalters, können Unfälle, Schlaganfälle, genetische Erkrankungen oder Suchtmittelabusus geschehen. Es geht nicht nur um den körperlichen (natürlichen) Abbau von Kräften, es geht auch um die plötzlichen Lebensereignisse, die den Menschen aus seinem bisherigen Sein reißen. Und für die so Betroffenen muss mehr getan werden als bisher, denn Pflegebedürftigkeit ist kein exklusiver Zustand des Alters.

Autorin: Dr. Annette Mund (Vorsitzende Kindernetzwerk e.V.)

 

Quellen/ Literatur-Links:

1) https://www.destatis.de/DE/Themen/ Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/ Publikationen/Downloads- Bevoelkerungsstand/broschuere-aelteremenschen 0010020169004.pdf?__blob= publicationFile&v=4
2) https://www.malteser.de/aware/hilfreich/ junge-pflege-die-beste-betreuung-fuer-junge- pflegebeduerftige.html

3) https://www.barmer.de/blob/135698/ ac141c44b72fe5a24a6d453c6fda9bf0/data/ dl-pflegereport-2017.pdf
4) A.a.O., S. 14f
5) https://www.grin.com/document/489840