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Interview mit Jürgen DuselInklusion in Deutschland

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, am Holztisch im Freien.

Interview mit Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen:
"Für eine Beschäftigungsquote von null Prozent habe ich null Prozent Verständnis."

Herr Dusel, wie sehen Sie generell den Inklusionsprozess in Deutschland?

In Deutschland leben derzeit rund 13 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung, ca. 8 Millionen von ihnen sind als schwerbehindert anerkannt. Aber nur 3 Prozent werden mit ihrer Behinderung geboren. Mehr als 95 Prozent erwerben ihre Behinderung – etwa durch Unfälle oder Krankheiten – im Laufe ihres Lebens. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, dass wir das Thema Inklusion überwiegend auf das Thema Schule beziehen und diskutieren. Während der Schulzeit leben viele noch gar nicht mit einer Behinderung, weil diese eben häufig erst später eintritt. Deshalb müssen künftig andere Themen verstärkt in den Fokus rücken: Wie bekomme ich einen Job? Komme ich – nach einem Unfall – mit meinem Rollstuhl überhaupt noch in meine Wohnung rein? Komme ich dann noch zum Arzt und kann ich überhaupt noch meine Freunde besuchen? Das sind die Fragen, die die meisten Menschen mit Behinderung umtreiben. Warum? Weil die allermeisten Arztpraxen nicht barrierefrei sind und man in viele Kneipen mit dem Rollstuhl eben nicht reinkommt. Und genau das führt zu Exklusion.

In welchen Bereichen hakt es noch am meisten?

Wir müssen vor allem die Barrieren im privaten Bereich abbauen. Im öffentlichen Bereich ist da – etwa in Form von Gebärdensprachen oder barrierefreien Zugängen zu Behörden – schon sehr viel mehr passiert. Aber wesentlich mehr spielt sich doch im privaten Bereich ab und dort hakt es noch gewaltig. Deshalb müssen die zentralen Allgemeingüter für Menschen komplett barrierefrei ausgerichtet sein. Beim Geldabheben von der Bank ist das zum Beispiel noch nicht der Fall. Geldautomaten funktionieren überall anders und haben immer eine andere Menüführung. Geld abheben in einer fremden Stadt ist so für viele Menschen mit Sehbehinderung ein Riesen-Problem. Da sind uns auch andere europäische Staaten voraus. Wir können hier nur besser werden, wenn wir auch private Anbieter zur Barrierefreiheit verpflichten. Das Grundgesetz gibt hierfür auch in Artikel 14 die Richtschnur vor. Denn dort steht, dass das Privateigentum garantiert ist, zugleich aber auch dazu verpflichtet, dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen. Und dazu zählen eben auch genauso die Menschen mit Beeinträchtigungen.
Der erste Schritt in diese Richtung ist nun aber mit einer neuen Richtlinie der Europäischen Union gemacht, in der Anbieter von digitalen Angeboten zur Barrierefreiheit verpflichtet werden.

Wie sehen Sie aktuell die Lage von - insbesondere - jungen Menschen mit Schwerbehinderung oder anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf dem (1.) Arbeitsmarkt?

Vor der Pandemie befanden sich 1,3 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung im Job. Das waren so viele wie noch nie zuvor. Dann kam die Pandemie, die uns einen höheren Anteil arbeitsloser Menschen mit Schwerbehinderung beschert hat. Der demographische Wandel spielt uns aber jetzt ein wenig in die Karten. Arbeitgeber suchen händeringend Fachkräfte und Menschen mit Schwerbehinderung sind oftmals sehr gut qualifiziert. Das ist auch eine Chance für junge Menschen mit Behinderungen.

Täuscht der Eindruck, dass im Rahmen eines Inklusionsprozesses in einem Betrieb immer viel stärker die Probleme als die damit verbundenen Chancen gesehen werden? Kommen die vielen positiven Beispiele auf dem inklusiven Arbeitsmarkt nicht zu kurz?

Ja das stimmt, es werden eher die Defizite gesehen. Die positiven Beispiele gehen etwas unter. Das ist Ausdruck der ‚German Angst'. Da dominieren Vorurteile, wie beim besonderen Kündigungsschutz für schwerbehinderte Beschäftigte. In nahezu 80 % der entsprechenden Anträge stimmen aber die Integrationsämter der Kündigung zu. Das wird oft vergessen. Denn es ist nicht so, dass Menschen mit Schwerbehinderung praktisch unkündbar sind. Zudem kann es auch zu einem Standortvorteil für Unternehmen werden, sich auch mal Personengruppen anzuschauen, die sie bisher nicht im Blick gehabt haben. Da sollten die Arbeitgeber der ‚German Angst' entgegentreten und sich mal ein bisschen lockermachen.

Viele schwerbehinderte Menschen stehen der Arbeitsagentur und auch den Integrationsfachdiensten häufig äußerst skeptisch gegenüber. Können Sie diese Erfahrungen teilen?

Nein, eigentlich nicht. Eigentlich sind Einrichtungen wie die IFD ja explizit für die Betroffenen da. Aber natürlich können Ämter auch Barrieren sein. Deshalb ist es besonders wichtig, dass vor allem Menschen mit Behinderungen andere Menschen mit Behinderungen beraten. Das findet etwa bei der EUTB (Ergänzende Unabhängige Teilhabe-Beratung) statt. Das ist dann glaubwürdig und authentisch. Und Berater sprechen mit Ratsuchenden die gleiche Sprache. Menschen mit einer starken Sehbehinderung können doch andere stark Sehbehinderte wesentlich besser beraten, weil sie wissen, wovon sie reden.
Wir müssen aber auch vermehrt andere Formate für die Beratung – außerhalb der Ämterebene – finden. Ein niedrigschwelliges und lockeres Frühstück mit potenziellen Arbeitgebern wäre da so ein Beispiel.

Als Alternative zum (1.) Arbeitsmarkt dienen heute immer noch die Werkstätten für Behinderte. Sind diese aber überhaupt noch zeitgemäß? Wie stehen Sie zu Vorschlägen, die dahingehend tendieren, die Werkstätten für Behinderte abzuschaffen?

Ich sehe das skeptisch, auch wenn natürlich immer und überall die Inklusion in den 1. Arbeitsmarkt oberste Priorität haben sollte. Und das hat zwei Gründe. Zum einen sind derzeit rund 170.000 Menschen mit einer Schwerbehinderung arbeitslos. Wenn all die Beschäftigten in den Werkstätten noch hinzukommen, wird sich die Zahl noch mal erhöhen. Zum anderen wollen aber ja viele schwerbehinderte Menschen selbst die Werkstätten beibehalten. Das sollten wir getreu dem Motto „Nicht über uns ohne uns" respektieren. Viele sehen die Werkstätten doch nicht nur als Arbeitsplatz, sondern auch als Stätte für eine Rehabilitation und einen Platz für ein soziales Zuhause. Da findet also eine Menge an sozialer Interaktion statt.

Also alles so belassen wie bisher?

Nein, auch die Werkstätten für behinderte Menschen müssen sich Veränderungsprozessen unterziehen. Da stellt sich doch etwa die Frage, warum die Übergangsquoten in den Arbeitsmarkt so lächerlich klein sind. Klar ist auch, dass man weniger Plätze in Werkstätten bräuchte, wenn der Arbeitsmarkt inklusiver wäre. Ein Schritt dazu wäre es, den Zugang zum 1. Arbeitsmarkt – etwa durch mehr Berufspraktika am Ende der Schulzeit in Betrieben – einfacher zu ermöglichen. Das passiert bislang viel zu selten, weil zu viele Praktika in den Werkstätten selbst stattfinden und viele schwerbehinderte Menschen dann dort auch bleiben. Gut wäre es deshalb auch, den Berufsbildungsbereich in den Werkstätten dualer als bisher üblich zu gestalten.

Wo stehen hier die Integrationsunternehmen als drittes Glied für betroffene Menschen zwischen einer Werkstatt für Behinderung und dem (1.) Arbeitsmarkt?

Ich bin ein Freund dieser Inklusionsunternehmen, weil sie zunächst als Brücke von der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt fungieren. Zudem stehen sie im 1. Arbeitsmarkt als Unternehmen durchaus im Wettbewerb mit anderen Betrieben – allerdings mit Unterstützung von Integrationsämtern. Das ist auch richtig so, weil sie einen sehr hohen Anteil von Menschen mit Schwerbehinderungen beschäftigen. Wir bräuchten sogar noch mehr und flächendeckend solche Inklusionsunternehmen, weil die Menschen dort eben keinen Werkstattlohn in Höhe von 150 bis 180 € bekommen, sondern den Mindestlohn, den ortsüblichen Lohn oder gar einen Tariflohn.

Welche Bedeutung kommt der bundesweiten Selbsthilfe im Rahmen der Aufklärung um einen inklusiven ersten Arbeitsmarkt zu? Immerhin haben viele Mitglieder von Selbsthilfeorganisationen entsprechend Erfahrungen gesammelt, die sie doch sehr authentisch und praxisnah weitergeben könnten, oder?

Ja, ich sehe die Selbstvertretung als ganz wichtigen Baustein im Aufklärungsprozess an. Deren Authentizität hat einen hohen Glaubwürdigkeitsgrad und ist daher besonders wertvoll.
Die Selbsthilfe spielt aber auch noch in einem anderen Zusammenhang eine Rolle. Zum Beispiel im Inklusionsbeirat, der auch aus Vertretern der Selbsthilfe besteht, und der die Bundesregierung und mich als Bundesbeauftragten auch in Sachen Inklusion am Arbeitsmarkt berät. Da kriegt man dann auch eher mit, wo es brennt. Das ist nicht immer einfach auszumachen, weil sich die Gruppe der Menschen mit Behinderungen ausgesprochen heterogen zusammensetzt.

Welche politischen Schritte sind aus Ihrer Sicht dringend notwendig, um ganz allgemein eine bessere und nachhaltige Inklusion auf dem (1.) Arbeitsmarkt zu erreichen?

Getreu meinem Motto: „Demokratie braucht Inklusion" muss der Staat verbindliche Rahmen setzen. Das praktiziert er auch, doch müssen diese Rahmen immer wieder angepasst werden.

Zum Beispiel durch gesetzliche Anpassungen. Zwar besteht hierzulande für Arbeitgeber, die mehr als 20 Arbeitsplätze haben, eine Beschäftigungspflicht von 5% von Menschen mit Schwerbehinderungen. Das bedeutet, dass eigentlich rund 170.000 Unternehmen in Deutschland beschäftigungspflichtig sind. Doch ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Unternehmen – das sind mehr als 43.000 in Deutschland – haben keinen einzigen Menschen mit Behinderung beschäftigt. Das ist inakzeptabel. Für diese beschämende Beschäftigungsquote von null Prozent habe ich null Prozent Verständnis. Wir müssen uns an die Regeln halten, die wir uns gegeben haben! Was wäre los, wenn ein Viertel aller Autofahrer in keiner Weise auf die Straßenverkehrsordnung achten würde! Der Staat würde reagieren und deshalb müssen wir auch hier reagieren. Der Gesetzgeber muss deshalb für diese Unternehmen die Ausgleichsabgabe deutlich erhöhen! Wir haben bisher 3 Stufen für diese Abgabe und ich fordere nun eine 4. Stufe, die mindestens doppelt so hoch ausfallen muss wie die 3. Stufe. Damit würde sie dann mindestens 750 € betragen. Diese Forderung habe ich auch politisch artikuliert. Sie war aber bislang trotz der Unterstützung des Arbeitsministers nicht mehrheitsfähig. Doch dürfen wir hier keinesfalls lockerlassen.

Aber sind nicht auch die bürokratischen Hürden zu hoch, so dass viele eigentlich bereitwillige Unternehmen vor einer Anstellung eines Mitarbeiters mit Behinderung zurückschrecken?

Genau das ist ein wunder Punkt und deshalb besteht auch beim Leistungsrecht gerade für die Unternehmer, die Menschen mit Behinderung einstellen wollen, dringender Handlungsbedarf. Das müssen wir vereinfachen und den Wirrwarr von Zuständigkeiten beenden. Wenn Sie ein kleineres Unternehmen haben und einen Menschen mit Behinderung einstellen wollen, dann kann es Ihnen passieren, dass am Montag die Bundesagentur für Arbeit kommt, am Dienstag das Integrationsamt, am Mittwoch der Integrationsfachdienst, am Donnerstag das Amt für Arbeitsschutz und so weiter. Am Freitag wünscht sich dann der Arbeitgeber, in Ruhe gelassen zu werden, weil er sich das allein zeitlich gar nicht leisten kann.
Daher hat die Bundesregierung jetzt das Teilhabestärkungsgesetz eingeführt, nach dem es einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber (z.B. über die Integrationsfachdienste) geben soll. Das ist ein erster Schritt, der aber noch nicht konsequent genug ist. Besser wäre es, wenn es für Arbeitgeber auch nur einen Leistungsträger geben würde, der hier das gesamte Portfolio aufmacht und alles managen kann. Ich plädiere dafür, dass dies die Integrationsämter sind, weil diese hier die Kernkompetenz haben. Das wäre dann eine echte Teilhabeberatung für Arbeitgeber.

Gibt es auch Forderungen von Ihrer Seite, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehen?

Ja, auch das liegt mir sehr am Herzen, weil es hier um Solidarität geht. Der Gesetzgeber hat in der Pandemie sehr viel Geld in die Hand genommen, um die Unternehmen zu stützen. Dieses Geld ist aber unter anderem auch von Steuergeldern von Menschen mit Behinderungen erwirtschaftet worden. Da Solidarität keine Einbahnstraße ist, sollten nun die Unternehmen auch verstärkt Menschen mit Behinderungen fördern und auf diese Weise die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt vorantreiben. Das sehe ich geradezu als Verpflichtung. So sollte zum Beispiel die Deutsche Bahn nun dafür sorgen, dass dort die Barrierefreiheit verbessert wird, damit zum Beispiel Arbeitskräfte mit Beeinträchtigungen noch besser ihren Arbeitsplatz erreichen können. Wir müssen einfach dafür sorgen, dass die vielen Milliarden, die während der Pandemie als Fördergelder geflossen auch anteilig den Menschen mit Behinderungen zugutekommen.

 

 

Jugendlicher auf dem Sofa, eine Jugendliche umarmt ihn von hinten.


Lebenslauf von Jürgen Dusel 

geboren am 14.2.1965 in Würzburg, verheiratet, zwei erwachsene Kinder. Schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 (von Geburt an stark sehbehindert mit einer heutigen Rest-Sehstärke von 1-2 Prozent). Als Jurist fungierte er unter anderem als Leiter des Integrationsamtes des Landes Brandenburg. Von 2010 bis 2017 Beauftragter der Landesregierung Brandenburg für die Belange der Menschen mit Behinderungen. Von 2018 bis 2021 Berufung zum Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Nach seinem Verständnis sollte ein Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen stets eine Person sein, die auch mit einer Behinderung lebt.

Das Interview führte Raimund Schmidt.