Toby Raulien, „Deaf Ohr Alive NRW“, im InterviewSelbsthilfe ist eine Tankstelle
Wenn man den Alltag mit einer seltenen, chronischen Erkrankung verbessern will, kommt man an der Selbsthilfe eigentlich nicht vorbei: Laut Bundesgesundheitsministerium engagieren sich rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland in der Selbsthilfe, bundesweit gibt es rund 100.000 Selbsthilfegruppen zu fast jedem gesundheitlichen und sozialen Thema. Toby Raulien gehört zu „Deaf Ohr Alive NRW“, einer jungen Selbsthilfegruppe des Cochlea Implantat Verbandes NRW e.V. Er ist seit Anfang 2019 Mitglied des Leitungsteam der Jungen Selbsthilfe des CIV NRW e.V., die das Ziel hat, Gleichbetroffene zu vernetzen, aufzubauen, zu stärken und sich gegenseitig zu unterstützen – das alles mit einer gehörigen Portion an Spaß und Aktivitäten.
Deaf Ohr Alive ist in NRW 2017 aus der Deaf Ohr Alive-Gemeinschaft der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft (DCIG) entstanden und seit 2021 offizielle Abteilung des CIV NRW e.V. Die Abteilung ist für hörbeeinträchtigte Menschen und Träger*innen des Cochlea Implantats ab 18 Jahren. Die Community von Deaf Ohr Alive ist schwerpunktmäßig lautsprachlich orientiert, es gibt allerdings auch einige, die die Gebärdensprache beherrschen.
Im Interview erzählt er von seinem Glück, in der Selbsthilfe angekommen zu sein und sie mit neuen Ideen voranzubringen.
Was ist Junge Selbsthilfe für dich und wie bist du dazu gekommen?
Im Frühjahr 2018 habe ich bei Facebook einen Fotografieworkshop für Menschen mit Hörbeeinträchtigung gefunden, den der CIV NRWe.V. organisierte und mich für diesen angemeldet. Dort war auch die Vorsitzende des CIV NRW e.V., Marion Hölterhoff. Sie hat mich mit ihrem Elan, ihrer Begeisterung für die Selbsthilfe und ihrer insgesamt sehr herzlich-sympathischen Art darauf aufmerksam gemacht, dass es auch eine Gruppe für junge Hörbehinderte gibt und mich überzeugt, dort mal hinzugehen. So kam es, dass ich durch den Schubser von Marion dann mehr und mehr in die (junge) Selbsthilfe eintauchte. Dass Selbsthilfe auch „jung“ sein konnte, war mir bis dahin nicht wirklich bekannt oder bewusst.
Was war für Dich Selbsthilfe und was ist sie heute?
Selbsthilfe war für mich bis dahin ein Klischee, das man aus dem Fernsehen, aus Serien und Filmen kennt: Man sitzt in Kellern im Kreis bei lauwarmem Kaffee, trockenen Keksen und klagt sich sein Leid. Das Format hat sicher seine Berechtigung und kann den Menschen helfen. Ich verstehe die Selbsthilfe aber vielmehr als Tankstelle:
Mit einer Behinderung, Krankheit oder psychischen Einschränkungen durchs Leben zu gehen, kostet viel Kraft und Ausdauer. Oft sind Betroffene sich aber gar nicht bewusst, wie viel Kraft sie tatsächlich besitzen und aufwenden. Und wo kann man auftanken?
Ich denke, die Selbsthilfe kann diese Tankstelle sein, so wie in meinem Fall. Man kann Selbstwert, Selbstliebe und Selbstbewusstsein auftanken, erhält hilfreiche Tipps für den Alltag und wird mit seinen Problemen nicht schief angesehen. Selbsthilfe kann ein gefühltes Auftanken, ein neuer Kraftquell sein.
Wie gestaltest Du Selbsthilfe für Junge Leute, damit sie erfolgreich ist?
Unser Erfolg ist der Spirit: Unsere Veranstaltungen – egal ob Seminar, Stammtisch oder Spaßevents – finden unter uns, möglichst (hör)barrierefrei statt. So können die Leute viel mehr aus sich raus gehen. Denn, wenn man an Terminen unter Normalhörenden teilnimmt, ist man schnell außen vor – man kommt akustisch nicht mit, es wird kein Verständnis entgegengebracht, so dass sich manche verständlicherweise zurückziehen. Mit unserem geschützten Raum ist das nicht der Fall. Dadurch wird auch eine „angstfreie“ Kommunikation untereinander möglich. Dass es so einen Rahmen für Betroffene gibt, stößt auch auf Dankbarkeit.
Ihr organisiert für die Junge Selbsthilfe viele Events?
Ja. Im Vordergrund stehen der Spaß und die Gemeinschaft, um in ihr und mit ihr zu wachsen. Gerade für uns Hörbeeinträchtigte ist das ganz wichtig, da wir sonst sehr häufig aufgrund der erschwerten Kommunikation außen vor sind.
Viele unserer Veranstaltungen wollen wir so gestalten, dass auch wir „tauben Nüsschen“ diese ohne Schwierigkeiten mitmachen und erleben können. So nutzen wir z.B. Anlagen zum besseren Verstehen, separate Räumlichkeiten, damit störende Nebengeräusche (z.B. in Restaurants) geringgehalten werden und weisen unsere Dozent*innen oder Aktivitätenleiter*innen auf unsere Einschränkungen gezielt im Vorfeld hin.
Unsere Veranstaltungen haben oft einen sehr familiären Charakter und man merkt, dass die Leute gerne zu uns kommen. Unsere Stammtische, die ein Mal pro Quartal stattfinden, sind gut besucht und auch unsere Seminare oder die sportlicheren Events wie Klettern im Landschaftspark Duisburg-Nord oder der Besuch einer Trampolinhalle lockt in der Regel viele Teilnehmer*innen.
Wodurch wächst die Junge Selbsthilfe weiter?
Natürlich spielen soziale Medien für die Mitglieder- und Aufmerksamkeitsgewinnung auch für uns eine große Rolle. Wir haben Accounts auf Facebook und Instagram, eine eigene Homepage und tauschen uns regelmäßig in unserer WhatsApp-Gruppe mit mehr als 80 Mitgliedern aus.
Durch die Aktivitäten dort werden auch immer mehr Leute auf uns aufmerksam. Es passiert auch, dass wir von anderen Organisationen oder auch Kliniken und CI-Zentren empfohlen werden. Auf diese Art wächst unsere Gemeinschaft Stück für Stück weiter.
Ihr seid drei Leute im Team und damit gut aufgestellt. Alle ehrenamtlich?
Richtig, das Leitungsteam von Deaf Ohr Alive NRW besteht aktuell aus drei Personen: Pia Flagge ist zuständig für Anmeldungen, Flyererstellung und Instagram, Daniel Aplas ist unser Bürokrat, regelt das finanzielle und rechtliche, insbesondere in Hinblick auf Förderungen und ist als stellvertretender Vorsitzender unser Mann im Vorstand des CIV NRW e.V. Ich kümmere mich um unsere Facebook-Seite, um unsere Homepage, um die Werbung für unsere Events und die Rundmails und kläre Veranstaltungen im Vorfeld mit den Örtlichkeiten, Dozenten, Betreuern und in Hinblick auf die Programme ab. Dabei unterstützen wir uns natürlich gegenseitig in unseren Aufgaben. Komplettiert werden wir drei Musketiere durch unsere Vorsitzende Marion Hölterhoff, die uns mit Rat und Tat zur Seite steht und uns fördert. Ohne ihre Unterstützung gäbe es uns als junge Selbsthilfe so nicht.
Wie sieht für dich in Zukunft die Junge Selbsthilfe aus?
Ich denke, was unsere Junge Selbsthilfe angeht, haben wir allen Grund, positiv in die Zukunft zu blicken. Wenn man die Jahre seit 2017 Revue passieren lässt, dann gab es eigentlich immer nur eine Richtung – nach oben.
Für 2019 und 2020 haben wir ja sogar den Selbsthilfepreis der gesetzlichen Krankenkassen gewonnen. Durch unser Wirken wird auch der CIV NRW e.V. größer und stärker, es kommen neue, kreative Gesichter dazu, die wachsen und etwas zurückgeben wollen. Insofern sind wir gut aufgestellt. Fürs Jetzt und für die Zukunft.
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